Die Ethikkommission für Berufe in der Pflege veröffentlicht Anfragen, die ihr zur ethischen Beratung vorgelegt werden, sowie die von ihr erarbeiteten Antworten in anonymisierter Form. Vorausetzung dafür ist, dass von den anfragenden
Personen bzw. Organisationen kein Widerspruch gegen die Veröffentlichung eingelegt wurde.
Balance von Empathie/Zuwendung und professioneller Distanz im Umgang mit pflegebedürftigen Menschen in der ambulanten und stationären Langzeitversorgung
Die Anfrage thematisiert die Gratwanderung von Mitarbeitenden in der Pflege untereinander und im Umgang mit Klient:nnen/Patient:innen/Bewohnenden zwischen Emphatie/Zuwendung und professioneller Distanz im Kontext der ambulanten und stationären Langzeitpflege. Zur Diskussion wird der vermeintlich erfolgreiche persönliche Umgang von Mitarbeitenden der Pflege mit Klient:innen/Patient:innen gestellt. So wird etwa das Duzen oder Ansprechen mit Vornamen oder Namensverniedlichungen, wie angehängte „ies“ an den Nachnamen, nicht selten als empathischer Zugang bzw. als ein Mittel des Beziehungsaufbaus angesehen und sind in der Wahrnehmung der Beteiligten oft positiv besetzt. Schilderungen der persönlichen Lebenssituation von Mitarbeitenden (Kinder-, Finanzprobleme, Trennung/Scheidung) können zu Begrifflichkeiten wie „Vertrauensverhältnis“ und „persönliche Freundschaft“ mit Klient:innen/Bewohnenden führen. Auch kommt es vor, dass mit diesen über andere Mitarbeitende und deren private Lebenssituation gesprochen wird. Die Suche nach Beziehungsindividualität in institutionellen Zusammenhängen hat eine hohe ethisch-moralische Komponente und korrespondiert mit Problemen wie Vereinzelung und Einsamkeitswahrnehmung. Dahinter steht als strukturelle Frage im Raum, wie Mitarbeitende in der Pflege auf ihre Rolle und Funktion vorbereitet werden und inwieweit Gesprächsführung, Abgrenzung und professionelle Distanz mit Freundlichkeit und Zugewandtheit in Aus- und Fortbildungen verpflichtend vermittelt werden/werden können.
Die von Frage nach der Balance von Empathie/Zuwendung und professioneller Distanz im Umgang mit pflegebedürftigen Menschen ist im Kontext der stationären und/oder ambulanten Langzeitversorgung aus Sicht der Ethikkommission für Berufe in der Pflege von besonderer ethischer Brisanz. Aus ethischer Perspektive befinden sich Pflegende (mit unterschiedlichen Qualifikationsniveaus und Kompetenzstufen) in einem grundlegenden Spannungsfeld: Sie müssen einerseits Nähe zu den Pflegebedürftigen aufbauen und zugleich die notwendige professionelle Distanz in der Pflegebeziehung wahren.
Die Begriffe Nähe und Distanz in der Pflege beschreiben das emotionale, räumliche und soziale Verhältnis zwischen Pflegepersonal und Menschen mit Pflegebedarf. Emotionale Nähe steht für Zugehörigkeit, Vertrauen, Sympathie, Akzeptanz und Mitgefühl. Distanz hingegen ermöglicht Schutz vor physischen und psychischen Verletzungen sowie die Wahrung einer professionellen Objektivität. Empathie und persönliche Zuwendung sind einerseits wesentliche Bestandteile professioneller Pflege, da sie Vertrauen schaffen, soziale Isolation mindern und schließlich die Würde der zu Pflegenden wahren. Andererseits kann eine zu große persönliche Nähe dazu führen, dass Grenzen verschwimmen: Pflegebedürftige könnten die Beziehung als Freundschaft missverstehen, wodurch aufgrund der in der Pflegebeziehung angelegten Asymmetrie Abhängigkeiten entstehen können; Pflegende geraten in Gefahr, ihre Rolle zu überschreiten, z. B. durch private Offenbarungen oder das Annehmen von Geschenken. Auch werden durch einen solchen Umgang Strukturen von Professionalität und Fairness im Pflegeteam untergraben. Dies kann zu „Klatsch“, Bevorzugungen/Benachteiligungen sowie damit verbundenen Konflikten führen.
Aus Sicht der Ethikkommission für Berufe in der Pflege verdichtet sich das ethische Kernproblem somit zu der praktischen Frage, wie eine menschlich zugewandte und vertrauensvolle Beziehung zwischen Pflegenden und Menschen mit Pflegebedarf konkret gestaltet werden kann, so dass diese weder in eine unprofessionelle, die Selbstbestimmung und den Schutz von Menschen mit Pflegebedarf gefährdende Nähe kippt, noch deren Bedürfnis nach Nähe und Beziehung übergeht.
Um einen entsprechend würdevollen Umgang mit pflegebedürftigen Menschen sicherzustellen, empfiehlt die Ethikkommission die Berücksichtigung folgender Aspekte:
- Es liegt in der Verantwortung der Einrichtungen bzw. Anbieter professioneller Pflege, ihre Mitarbeitenden – unabhängig von deren Qualifikationsniveau und Kompetenzstufe – auf diese Grenzsituationen in der Pflegebeziehung vorzubereiten, sie für deren ethische Dimension zu sensibilisieren und verbindliche Standards für Selbstreflexion, Gesprächsführung und Abgrenzung zu etablieren.
- Einrichtungen des Gesundheitswesens sollten ihre Mitarbeitenden dabei unterstützen, eine offene, wertschätzende Zusammenarbeit sowie eine angemessene und professionelle Kommunikation im Team zu pflegen. Vonseiten der Pflegeeinrichtung sollten für die Mitarbeitenden verbindliche (ggf. verpflichtende) Module zu Kommunikation, Ethik und professioneller Beziehungsgestaltung angeboten werden, um schädlichen, professionell unangemessenen Dynamiken im Pflegeteam entgegenzuwirken.
- Beruflich Pflegende tragen gleichwohl eine persönliche Verantwortung für die professionelle Gestaltung der Beziehung zu Menschen mit Pflegebedarf. So gehört es, laut ICN-Ethikkodex, zu den Pflichten von Pflegefachpersonen, die Grenzen ihrer beruflichen Rolle zu erkennen und zu berücksichtigen. Pflegepersonen müssen sich entsprechend regelmäßig mit ihrem eigenen Nähe-Distanz-Verhalten auseinandersetzen; dies sollte durch Supervision, Fallbesprechungen oder die Reflexion von schwierigen Nähe-Distanz-Situationen im Team unterstützt werden.
- Professionell Pflegende sollen Empathie gegenüber allen Menschen mit Pflegebedarf zeigen. Dazu gehören vor allem aktives Zuhören und echte Präsenz – jedoch ohne intime Details aus dem eigenen Privatleben preiszugeben oder persönliche Probleme zu teilen. Pflegende sollen ihre Wertschätzung gegenüber Menschen mit Pflegebedarf über eine respektvolle Sprache vermitteln, nicht durch Verniedlichungen oder „Pseudofreundschaften“.
- Die Herstellung von Nähe in der Pflegebeziehung kann durchaus bedeuten, dass Pflegende Inhalte aus dem eigenen Leben in Gespräche aufnehmen. Entscheidend ist dabei jedoch eine „gesunde“ Selbstreflexion. So sollten sich Pflegende stets darüber bewusst sein, dass sie in der professionellen Rolle einer Pflegeperson handeln und nicht als private Freundin/Vertraute. Werden die Grenzen dieser professionellen Rolle – etwa durch Fragen oder Kommentare zum Privatleben – von Menschen mit Pflegebedarf überschritten, sind Pflegende gefordert, freundlich, aber bestimmt auf die Wahrung dieser Grenzen hinzuweisen.
- Einrichtungen sollten über klare Regeln zum Umgang mit privater Offenheit und Anredeformen verfügen (z. B. „Duzen“ nur nach Absprache und mit Zustimmung der Einrichtung) und diese transparent kommunizieren.
- Werden Pflegenden Geschenke von Menschen mit Pflegebedarf angeboten, sollten sie sich zwar dankbar zeigen, die Annahme jedoch höflich ablehnen. Um solche Situationen im Rahmen der individuellen Pflegebeziehung zu vermeiden, sollten seitens der Pflegeeinrichtung mit Menschen mit Pflegebedarf sowie den Mitarbeitenden klare Regeln zum Umgang mit Geschenken vereinbart werden, z. B. eine Überführung in institutionelle Strukturen (etwa eine gemeinsame Kaffeekasse oder eine Einrichtungsspende; die Erstellung eines Compliance-Leitfadens kann zur Darstellung korrekten Verhaltens hilfreich sein).
- Auf struktureller Ebene sollten Pflegeethik sowie damit verbundene, pflegerische Themen, wie
z. B. das Spannungsfeld von Nähe und Distanz, verbindlich in einrichtungsweite Schulungen, Weiterbildungen und Teambuilding-Maßnahmen integriert werden, um Pflege- und Betreuungspersonal in der Gesprächsführung und Selbstreflexion zu stärken. - Die Etablierung von Ethikforen und/oder Ethik-Cafés in Einrichtungen bietet sich an, um sich mit bestehenden Ethikstrukturen anderer Einrichtungen zu vernetzen und Pflegenden grundsätzlich eine Ansprechstelle für ethische Grenzfragen und Konflikte in ihrer beruflichen Praxis zu eröffnen.
Weiterbeatmung von in der neurologischen Langzeitpflege verstorbenen Patient:innen
In der neurologischen Langzeitpflege verstorbene Patient:innen werden bis zur ärztlichen Todesfeststellung weiterbeatmet, was mitunter Stunden dauern kann. Ein solches Vorgehen erscheint sowohl aus professioneller Sicht als auch mit Blick auf die Würde der Verstorbenen als problematisch. Viele beruflich Pflegende, die in diesen Bereichen tätig sind, fühlen sich zu diesem Thema wenig informiert und unterstützt.
Pflegefachpersonen erleben solche Situationen als ein ethisches Dilemma: Aufgrund von Erfahrung und Monitoring können sie den Tod von Patient:innen/Bewohner:innen erkennen und empfinden es als würdeverletzend – sowohl für die Patient*innen/Bewohner:innen als auch für die beruflich Pflegenden –, die Beatmung bei bereits Verstorbenen fortzusetzen. Andererseits ist es rechtlich vorgegeben, dass nur approbierte Ärzt:innen den Tod offiziell feststellen dürfen. Selbst wenn sie es könnten, haben Pflegefachpersonen keine Befugnis zur Todesfeststellung. Aus rechtlicher Sicht ist eine Weiterbeatmung bis zur ärztlich durchgeführten Leichenschau somit erforderlich. Für Pflegefachpersonen verursachen Situationen, in denen verstorbene Patient:innen weiterbeatmet werden, moralischen Stress. Konkret stehen sie vor der Herausforderung, im Einzelfall eine Balance zu finden zwischen ihrer berufsethischen Verantwortung, ein würdiges Sterben zu unterstützen sowie die Autonomie von Patient:innen am Lebensende zu achten, und der Pflicht, rechtliche Vorgaben einzuhalten.
Für den Umgang mit solchen Situationen möchte die Ethikkommission für Berufe in der Pflege die folgenden Aspekte zu bedenken geben und dabei insbesondere auf die Bedeutung proaktiver interprofessioneller Kommunikation zur Vermeidung ethisch herausfordernder Situationen im Umgang mit verstorbenen Patient:innen/Bewohner:innen hinweisen:
- Pflegefachpersonen sollten Kenntnis darüber haben, dass es die Pflicht von Ärzt:innen ist, unverzüglich nach Benachrichtigung über einen Todesfall (d. h. ohne schuldhaftes Verzögern) zu Patient:innen zu kommen, um deren Tod festzustellen (§§ 3, 4 Abs. 1 S.1 Nds. BestattG). Es kann ggf. zur Verhängung eines Bußgeldes kommen. Wenn Ärzt:innen ihre Pflichten im Rahmen der Leichenschau verletzen ist ggf. auch eine Meldung bei der Landesärztekammer Niedersachen möglich.
- Grundsätzlich ist eine enge und vertrauensvolle Zusammenarbeit im Team zwischen Ärzt:innen und beruflich Pflegenden wichtig, um den Pflegefachpersonen in solchen Situationen Sicherheit zu geben. Dies setzt eine patientenzentrierte Versorgung als gemeinsames Ziel von Ärzt:innen und Pflegefachpersonen voraus. Eine vertrauensvolle Zusammenarbeit erfordert zudem wechselseitige Verlässlichkeit, die beinhaltet, dass Vereinbarungen eingehalten werden und Verantwortung für das eigene Handeln übernommen wird. Schließlich braucht es Ehrlichkeit, um Probleme oder Fehler im interprofessionellen Team offen anzusprechen. Diese Qualität der Zusammenarbeit ist zentral, um mit ethisch herausfordernden Situationen professionell umzugehen und die Entstehung von moralischem Stress zu vermeiden.
- Pflegefachpersonen sollten darin bestärkt werden, proaktiv auf Ärzt:innen zuzugehen und regelmäßig die Indikation für therapeutische Maßnahmen (z. B. invasive Beatmung) zu hinterfragen. Dies kann ggf. zur Vermeidung von Situationen beitragen, in denen Patient:innen unter Beatmung versterben.
- Bei Verdacht auf Gesetzesverstöße, vermuteten Pflegefehlern oder pflegerischen Qualitätsmängeln können sich beruflich Pflegende aus allen Pflegebereichen an die Beschwerdestelle Pflege beim Sozialministerium in Hannover wenden.
Transpersonen ohne vollständig Transition – Zimmerbelegung im stationären Setting
Wie kann eine Zimmerbelegung von Transpersonen ohne vollständige Transition im stationären Setting erfolgen?
Die Frage, wie eine Zimmerbelegung von Trans*Personen ohne vollständige Transition im stationären Setting umgesetzt werden kann, hat eine grundsätzliche ethische Dimension, da sie sowohl die Selbstbestimmung von Trans*Patient:innen als auch die anderer Patient*innen berührt. Vor dem Hintergrund, dass Pflegefachpersonen für die stationäre Bettenbelegung verantwortlich sind, ist Ihre Frage zudem von unmittelbarer pflegeethischer Bedeutung. So gilt es im Umgang mit dieser Situation, sowohl die Intimsphäre von Trans* Patient:innen, die noch keine Transition zu dem Geschlecht, mit dem sie sich identifizieren, durchlaufen haben, als auch die Intimsphäre anderer Patient:innen, die sich mit dem Geschlecht, das ihnen anhand ihrer angeborenen Körpermerkmale zugeschrieben wurde, identifizieren (Cis*Patient:innen), zu wahren.
Grundsätzlich möchte die Ethikkommission für Berufe in der Pflege betonen, dass das Geschlecht, zu dem sich eine Person zugehörig fühlt und mit dem sie sich identifiziert, unbedingte Anerkennung im Pflegeprozess finden muss. Eine diversitätssensible Pflege, die die Wünsche von Patient*innen auch mit Blick auf ihre geschlechtliche Identität respektiert, ist Teil des pflegerischen Ethos, das die Achtung der Patientenautonomie als einen zentralen Wert beinhaltet. Der Suche nach einer die Autonomie von Trans* Personen respektierenden Lösung stehen gesetzliche Vorgaben nicht entgegen.
Um sowohl eine würdevolle stationäre Unterbringung von Trans*Patient:innen ohne vollständige Transition als auch von Cis*Patient:innnen sicherzustellen,empfiehlt die Ethikkommission für Berufe in der Pflege konkret folgende Maßnahmen:
- Pflegefachpersonen kommunizieren offen, sowohl mit Trans*Patient:innen als auch mit den Patient:innen, mit denen diese. das Zimmer teilen würden. Dazu gehört es auch, Trans*Patient:innen auf mögliche Unsicherheiten (z. B. bezüglich der bevorzugten Anrede) anzusprechen und mit ihnen zu besprechen, ob sie lieber in einem Einzelzimmer untergebracht werden möchten. Eine der Identität der Trans*Person zuwiderlaufende geschlechtliche Zuordnung (z.B. durch eine nicht gewünschte Anrede oder eine Zimmerbelegung mit Patient:innen anderen Geschlechts als dem, mit dem sich die Trans*Person identifiziert) kann von diesen als traumatisch erlebt werden.
- Falls Trans* Patient:innen eine Unterbringung im Einzelzimmer ablehnen, empfiehlt sich eine Besprechung im Pflegeteam über die Optionen einer gemeinsamen Zimmerbelegung. So könnte die Zusammenlegung mit einer anderen Trans*Patient:in mit gleicher geschlechtlicher Identität oder auch dieZusammenlegung mit einer Cis*Patient:in erwogen werden.
- Vor diesem Hintergrund kann Trans*Patient:innen ein entsprechendes Angebot zu ihrer Unterbringung unterbreitet und ihre Zustimmung zu einer dieser Optionen erbeten werden.
- Bevor eine gemeinsame Zimmerbelegung erfolgen kann, bedarf es immer auch der Zustimmung des/der anderen Patient:in.Die Bedürfnisse beider Patient:innen in Hinblick auf die Wahrung ihrer Intimsphäre sind zu erfragen und zu wahren (z.B. Benutzung eines Vorhangs zwischen den Betten).
Ergibt sich im Zuge einer gemeinsamen Zimmerbelegung von Trans*Patient:innen (die noch keine Transition zu dem Geschlecht, mit dem sie sich identifizieren, durchlaufen haben) und Cis*-Patient:innen, dass einer/eine der Patient:innen mit der Situation überfordert ist, sollte eine Verlegung ermöglicht werden.Dadurch können Trans*patient:innen vor (neuerlicher) Diskriminierung geschützt sowie die Intimsphäre und Wünsche der anderen Patient*innen geachtet werden
Da im Kontext der medizinischen und pflegerischen Versorgung von Trans*Patient:innen häufig Unsicherheiten im professionellen Team bestehen, empfiehlt die Ethikkommission für Berufe in der Pflege Niedersachsen Teamfortbildungen zu organisieren, um Unsicherheiten abzubauen und der Stigmatisierung und Diskriminierung von Trans*Personen vorzubeugen. Im Sinne eines professionellen Umgangs mit wiederkehrenden, als ethisch herausfordernd wahrgenommenen Situationen kann es zudem hilfreich sein, sich gemeinsam (auch unterstützt durch das Klinische Ethikkomitee) auf Verfahrensregeln und standardisierte Abläufe zu einigen, die für alle Mitglieder eines Arbeitsbereichs oder einer Einrichtung verbindlich sind.
Berücksichtigung von Patient:innenwünschen bei möglicherweise entgegenstehenden rechtlichen Vorgaben (z.B. seitens Arbeitsgeber:in, Einrichtungsträger:in)
Wie kann mit Situationen umgegangen werden, in denen Pflegefachpersonen die Berücksichtigung des Wunsches von Pflegeempfänger*innen als moralisch geboten ansehen, daran jedoch durch eine (z.B. vom/von der Arbeitsgeber:in/Träger:in) angeführte Rechtsvorschrift gehindert werden? Wie können solche die Pflegefachpersonen oder auch das Verhältnis zur Leitungsebene belastenden Situationen im Team bearbeitet werden?
Die Ethikkommission für Berufe in der Pflege möchte mit Blick auf diese Fragestellungen die folgenden Punkte zu bedenken geben:
- Pflegehandlungen sind selbstverständlich an rechtliche Vorgaben gebunden. Die Existenz rechtlicher Vorgaben erübrigt jedoch nicht das ethische Abwägen von pflegerischen Handlungsmöglichkeiten im Einzelfall. Dies begründet sich insbesondere vor dem Hintergrund, dass individuelle Wünsche von Pflegeempfänger*innen Respekt verdienen, unabhängig davon, wie sie motiviert sind/begründet werden. Das Bemühen, auf individuelle Wünsche von pflegerischer Seite her soweit wie möglich einzugehen, entspricht dem pflegerischen Berufsethos.
- Bei Uneinigkeit im Team, wie mit dem Wunsch von Pflegeempfänger*innen im Lichte möglicherweise entgegenstehender rechtlicher Vorschriften umgegangen werden soll, ist eine gemeinsame Besprechung im Team oder mit den von einem Konflikt betroffenen Kolleg*innen zu empfehlen. Ziel einer solchen Besprechung ist es, sowohl die im Raum stehenden moralischen Positionen der von dem Konflikt betroffenen Personen, als auch die rechtliche/organisatorische Sachlage in den Blick zu nehmen und vor diesem Hintergrund zu einer begründeten Entscheidung, die von allen Beteiligten mitgetragen werden kann, zu gelangen. Zur Unterstützung einer solchen Besprechung im Team können vielleicht die folgenden Fragen hilfreich sein:
Klärung des Wunsches der Pflegeempfängerin/des Pflegeempfängers:
a) Worin genau besteht der Wunsch?
b) Wie wird der Wunsch begründet?
Klärung der Positionen im Pflegeteam:
a) Wie stehen die Mitglieder des Pflegeteams zu dem geäußerten Wunsch?
b) Was sind ihre Gründe, dem Wunsch der Pflegeempfängerin/des Pflegeempfängers zu entsprechen/nicht zu entsprechen?
c) Was sind die Befürchtungen der von dem Konflikt betroffenen Mitarbeitenden, wenn sie dem Wunsch der Pflegeempfängerin/des Pflegeempfängers nachkommen/nicht nachkommen?
Klärung der rechtlichen Sachlage & organisationalen Rahmenbedingungen:
a) Welche konkreten rechtlichen Vorschriften stehen dem geäußerten Wunsch einer Pflegeempfängerin/eines Pflegeempfängers entgegen?
b) Ist bekannt, wie andere Einrichtungen/Institutionen mit der konkreten, in Frage stehenden Situation umgehen?
Unterstützende Fragen zur Lösungsfindung im Team:
a) Haben sich durch die Klärung der Sachlage alternative Handlungsoptionen aufgetan?
b) Wie sind diese Handlungsoptionen mit Blick auf den Wunsch der Pflegeempfängerin/des Pflegeempfängers zu bewerten?
c) Wie sind diese Handlungsoptionen mit Blick auf die geltenden Rechtsvorschriften zu bewerten?
d) Lässt sich aus einer der im Raum stehenden Handlungsoptionen eine für alle Seiten tragbare Lösung ableiten?
e) Wer ist konkret verantwortlich für die Umsetzung der gefundenen Lösung?
f) Wer muss/soll über diese Lösung (zusätzlich) informiert werden?
Beachtung von Patientenverfügungen bei Reanimation
Viele Bewohner haben eine Patientenverfügung mit dem Vermerk, dass keine Reanimation gewünscht ist. Sind wir als Pflegekräfte dazu aufgefordert, dennoch wiederzubeleben, bis der angeforderte Notarzt eintrifft oder sind wir dazu angehalten, dem Wunsch der Patientenverfügung nachzugehen und nicht zu reanimieren?
Die Autonomie als Recht jedes Menschen, eine Behandlung zu akzeptieren oder abzulehnen, gilt auch für die Bewohnerinnen und Bewohner von Pflegeeinrichtungen.
Eine Reanimation ist nicht zu beginnen, wenn der ausdrückliche Wunsch der Bewohnerin oder des Bewohners dem entgegensteht. Jede Person, der dieser Wunsch bekannt ist, hat sich daran zu halten. Wiederbelebungsversuche sind zu unterlassen. Das betrifft sowohl die beruflich Pflegenden, als auch Angehörige und den angeforderten notärztlichen Dienst.
Wichtig ist, dass die Patientenverfügung eine eindeutige Willensbekundung im Hinblick auf die Reanimation enthält. Möglich ist auch, dass der zu beachtende Wunsch aufgrund von Gesprächen mit der betroffenen Person oder ihrer rechtlichen Vertretung bekannt ist.
Empfehlenswert ist eine geeignete Dokumentation, um im konkreten Einzelfall auch entsprechend dem Wunsch der Bewohnerinnen und Bewohner handeln zu können.